– Edle Einfalt statt echter Vielfalt? Inklusion in der bildenden Kunst

Dirk Sorge Vielfalt wird von Kunsthochschulen theoretisch gewollt, weil Vielfalt nach Kreativität, Innovation und fruchtbarem Austausch klingt. Aber praktisch wird zu wenig dafür getan, diese Vielfalt zu ermöglichen, besonders, wenn das bedeutet, Routinen zu hinterfragen und sich weiterzubilden. Es fehlt das Wissen darum, wie mit vielfältigen Bedürfnissen tatsächlich umzugehen ist. Es fehlt das Wissen darum, wie konkrete Arbeits- und Lernsituationen mit unterschiedlichen Lebensrealitäten im Alltag in Einklang gebracht werden können. Diversität kann anstrengend sein. Einfalt ist deutlich bequemer – zumindest für die, die dazugehören und z.B. keine Behinderung haben.

Es hilft wenig, dass es eine einzelne Personen gibt, die sich mit den Belangen der Studierenden mit Behinderung beschäftigt, wenn die Lehrenden, mit denen diese Studierenden täglich zu tun haben, keine Ahnung von dem Thema haben. Es fehlt an Knowhow und Softskills. Vielfalt ja, aber bitte nur mittwochs zwischen 9:00 und 11:00 Uhr? Ja danke, den Ausgang finde ich allein.

Installation „PRISMA“: Sieben farbige Kerzen stecken waagerecht in einer Leinwand, die auf dem Boden steht. Die Kerzen haben die Farben des Regenbogens, sind treppenförmig angeordnet und brennen. Der geschmolzene Wachs tropft von oben nach unten und vermischt sich dabei.
Installation „PRISMA“, Dirk Sorge

Dekorative Barrieren

Neben Knowhow und Softskills im Umgang fehlt es aber oft auch an handfesten Dingen, die den physischen Zugang zum Lernort überhaupt ermöglichen. Viele Kunsthochschulen sind in denkmalgeschützten Gebäuden untergebracht. Viele wirken von außen wie Museen mit Freitreppen, Säulen und verzierten Fassaden. Das sieht hübsch aus, ist aber äußerst unpraktisch, denn in Deutschland wird der Denkmalschutz wie das elfte Gebot aus der heiligen Schrift behandelt: „Du sollst nicht umbauen deines Vaters Haus.“

Ich bin der Meinung, dass Im Zweifelsfall die Bedürfnisse der aktuell lebenden Menschen Vorrang haben sollten vor den Plänen verstorbener Architekten. Konkret heißt das, wenn das denkmalgeschützte Gebäude der Kunsthochschule keinen Aufzug hat, sollte dieser schnellstens eingebaut werden. Wenn die Akustik im Hörsaal mies ist, sollten bauliche Veränderungen vorgenommen werden. Wenn die Beschilderung und die Wegeführung intuitiv nicht verständlich sind, muss über eine bessere Gestaltung nachgedacht werden. Bauliche und gestalterische Barrierefreiheit ist nicht hinreichend für Inklusion, aber sie ist eine notwendige Voraussetzung. Fehlende Barrierefreiheit verhindert nicht nur die Teilhabe von Studierenden mit Behinderungen, sondern betrifft auch die Seite der Lehrkräfte und der übrigen Mitarbeiter*innen einer Hochschule. Wie soll sich der Gedanke durchsetzen, dass Behinderung Normalität ist, wenn Dozent*innen und Professor*innen mit Behinderung gar nicht ins Gebäude gelangen? Ist die antikisierende Freitreppe schützenswerter als das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe?

Luxusprobleme

Allerdings beginnen die Barrieren schon lange vor dem eigentlichen Studium. Der gesamte Bewerbungsprozess an der Kunsthochschule ist eine Aneinanderreihung von Barrieren. Hier exemplarisch dargestellt am Verfahren der Universität der Künste Berlin (UdK): Nachdem man die Bewerbungsmappe mit Arbeitsproben noch halbwegs anonym abgeben kann, folgt nach der Vorauswahl eine Einladung zur mehrtägigen Eignungsprüfung. Hier gilt es, in einem Hörsaal eine theoretische Fragestellung handschriftlich auf Deutsch zu beantworten. Danach muss vor Ort zwei Tage praktisch gearbeitet werden und künstlerische Arbeiten angefertigt werden. Anschließend gibt es noch ein Gespräch vor einer Kommission von Professor*innen und Dozent*innen. Spätestens hier würde eine sichtbare Behinderung auffallen. Ob das die Entscheidung über die Zulassung beeinflusst, hängt dann auch davon ab, wie vorurteilsfrei die Kommission ist und ob die Mitglieder gute oder schlechte Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungen gemacht haben. Alles das findet in unterschiedlichen Räumen statt, über die in der Regel keine Informationen zur Barrierefreiheit vorliegen. Welche technischen oder personellen Hilfen zulässig sind und wie bei der Kommunikation auf bestimmte Bedürfnisse eingegangen werden kann, bleibt völlig im Dunkeln. Natürlich könnte jede*r Bewerber*in mit Behinderung im Vorfeld einzeln nachfragen. Das Dumme ist nur, dass die Bewerbung eine knallharte Konkurrenzsituation ist und man nicht schon im Vorfeld als jemand negativ auffallen will, die/der zusätzliche „Scherereien“ verursacht. Häufig brauchen Menschen mit Behinderung zusätzliche Informationen, um gut planen und sich auf Abläufe vorbereiten zu können. Es wäre wünschenswert, dass diese Informationen transparent und zugänglich für alle angeboten werden und nicht erst auf Nachfrage.

Bild-Ende Kunst

Ich habe die Aufnahmeprüfung an der UdK im Jahr 2005 bestanden. Damals war ich äußerlich nicht als Mensch mit Behinderung erkennbar. Ich weiß nicht, wie das Gespräch mit der Kommission verlaufen wäre, wenn ich mit Blindenstock in den Raum gekommen wäre. Ich möchte hier nicht spekulieren und auch niemandem etwas unterstellen. Als ich zwei Jahre später zum ersten Mal mit Blindenstock in die Kunsthochschule kam, war die Reaktion aber eindeutig: Die meisten glaubten, es wäre eine Performance oder ein schlechter Scherz. Einige dachten auch an Timm Ullrichs Aktion „Ich kann keine Kunst mehr sehen“, bei der der Künstler mit Blindenstock und Armbinde auftrat. Die wenigsten wussten, dass man den weißen Langstock auch benutzt, wenn man nicht vollblind ist. Und gleichzeitig schien es ein Naturgesetz zu sein, dass ein blinder Mensch nicht bildende Kunst machen könnte. Dadurch hatte ich teilweise das Gefühl, ich müsste mich dafür rechtfertigen, bildende Kunst zu studieren oder als müsste ich etwas zusätzlich begründen oder beweisen.

Tatsächlich habe ich trotz/wegen/mit Sehbehinderung erfolgreich studiert. Die meisten Kommilitonen waren hilfsbereit und hatten Verständnis, wenn z.B. mal etwas nicht so schnell ging. Hilfsbereitschaft ersetzt aber keine Barrierefreiheit. Sie kann zu asymmetrischen Machtverhältnissen führen und es ist immer ein Anteil von Zufall und Wohlwollen enthalten. Da ich gerne selbst die Kontrolle behalte, lege ich mir daher oft einen Plan B zurecht oder gehe Umwege, um auch ohne Hilfe mein Ziel zu erreichen. Das kann sehr anstrengend sein und verursacht Dauerstress. Ich glaube, mir hätte es geholfen, wenn ich mehr Kommilitonen mit Behinderung gekannt hätte.

Fehlende Vorbilder

In Deutschland gibt es keine Statistik darüber, wie viele Künstler*innen mit Behinderung arbeiten, wie viele von ihnen eine akademische Ausbildung haben und wie viele von ihrer Kunst leben können. Niemand muss sich offen als Mensch mit Behinderung „outen“ oder im Lebenslauf oder Artist Statement darauf hinweisen. Tatsächlich habe ich einige Künstler*innen kennen gelernt, die ihre Behinderung explizit nicht erwähnen möchten, weil sie befürchten, stigmatisiert zu werden. Es besteht die berechtigte Angst, dass die künstlerische Arbeit anders betrachtet wird, eventuell weniger ernst genommen wird oder die Künstler*in auf ihre Behinderung reduziert wird.

Ich habe auf diese Angst vor der Stigmatisierung mit einer Performance reagiert: Ich habe mir vor Publikum in einem Tattoo-Studio die drei schwarzen Kreise des Blindenzeichens auf die Brust tätowieren lassen. Ich habe damit die Stigmatisierung inszeniert und gleichzeitig meine tatsächlich vorhandene Sehbehinderung öffentlich gemacht. Beim Thema „Kunst von Menschen mit Behinderungen“ denken viele vor allem an Kunsttherapie, an Malgruppen als Freizeitbeschäftigung in Einrichtungen der Behindertenhilfe und ähnliche Angebote. Ich glaube, das ist ein großes Problem und führt dazu, dass professionell arbeitende Künstler*innen ihre Behinderung weder zeigen noch thematisieren möchten. Sie möchten nicht als Teil der erwähnten Gruppen wahrgenommen werden. Die Qualität und der Wert zeitgenössischer Kunst ist stark abhängig vom Image, von der Biografie, vom Vergleich mit anderen und von sonstigen Kontextfaktoren. Es mangelt aber leider an erfolgreichen Künstler*innen, die sich mit einer Behinderung auf dem regulären Kunstmarkt durchgesetzt haben und damit als positive Referenz dienen könnten. Es besteht die Gefahr, ungewollt in die Schublade „Outsider Art“ eingeordnet zu werden.

Brotlose Kunst

Eine Frage, die immer wieder diskutiert wird, ist die, ob es spezielle Förderprogramme, Stipendien oder Preise für Künstler*innen mit Behinderung geben sollte. Ein Argument, das dagegen ins Feld geführt wird, ist die Tatsache, dass fast alle Künstler*innen in prekären Verhältnissen leben und ohnehin nur wenige Prozent der Absolvent*innen von Kunsthochschulen von ihrer Kunst leben können. Alle Künstler*innen sind arm – warum sollten einige aufgrund ihrer Behinderung bevorzugt werden? Diese Argumentation ist eindimensional und berücksichtig nicht, wie sich verschiedene Benachteiligungen gegenseitig verstärken können. Behinderung und Krankheit sind zusätzliche Armutsrisiken und können dazu führen, dass Menschen es sich schlicht nicht mehr leisten können, selbstständig zu arbeiten. Ein Stipendium, das für einige Monate gerade so zum Arbeiten und Leben reichen soll, wird unattraktiv, wenn zusätzlich eine Arbeitsassistenz, erhöhte Transportkosten oder andere Hilfen davon bezahlt werden müssen, die mit der Behinderung zusammenhängen. Ateliers und Residenzprogramme sind häufig nicht barrierefrei und auch hier fehlt es wieder an zugägnlichen Informationen, um planen zu können. Das Leben als Künstler*in erfordert ein hohes Maß an Mobilität und Flexibilität. Menschen mit Behinderungen sehen sich aber oft mit langwierigen, bürokratischen Prozessen von Krankenkassen und anderen Leistungsträgern konfrontiert, die dieses flexible Leben erschweren oder verhindern. Die 7 Tage-Woche und Nachtarbeit können zur Realität einer Künstlerkarriere dazugehören, passen aber schlecht zur Logik des Integrationsamtes.

Es wäre daher sinnvoll, die konkreten Bedarfe von Künstler*innen mit Behinderungen zu ermitteln und Förderprogramme zu etablieren, die den Mehrbedarf abdecken, damit nicht das ohnehin knappe Künstlerhonorar dafür genutzt werden muss.

Inklusion umfassend denken

Mit der Ausbildung und Förderung von Künstler*innen mit Behinderungen ist die Inklusion natürlich nicht erledigt. Institutionen wie Hochschulen, Museen und Galerien müssen auch im Personal diverser werden – und dazu gehören auch Menschen mit Behinderung. Auch Kurator*innen müssen sich weiterbilden und die Berührungsängste verlieren. Es muss eine Selbstverständlichkeit werden, dass Behinderung als eine Dimension von Diversität auch im Kunstbetrieb vertreten ist, ohne extra betont werden zu müssen und ohne, das Label „Inklusion“ über eine Ausstellung zu schreiben. Auch die Art wie Marketing betrieben wird und wie Medien über sogenannte „inklusive Kunstprojekte“ berichten, sollte gründlich hinterfragt werden, weil nicht selten durch ungeschickte oder reißerische Wortwahl die Exklusion und die Diskriminierung gerade verstärkt wird.

Wir wollen keine Bevorzugung oder Besserbehandlung. Wir wollen, dass Nachteile abgebaut werden, die durch diskriminierende Strukturen entstehen.