– Programmwahl

Sowohl die thematische Ausrichtung als auch die Art und Weise der Programmentscheidung und -mitbestimmung sind wichtige Faktoren für eine relevante und inklusive Kultureinrichtung. Welche Themen werden behandelt? Welche nicht? Wer entscheidet über den Inhalt des Programms? Wer ist die Zielgruppe und wer wird dabei vergessen oder unbewusst ausgeschlossen?

Szenenaufnahme der Forward Dance Company aus dem Stück JOY. Drei Tänzerinnen in rotbrauen Bodies auf der Bühne. Hellgrauer Bühnenboden, schwarzer Hintergrund. Lichtkegel über jeder Tänzerin. Die Tänzerin links steht im leichten Spagat nach vorn gebeugt, den Kopf nach hinten gelegt. Die Tänzerin in der Mitte steht auf dem rechten Bein, das linke etwas angewinkelt, die Arme nach unten genommen und die Hände zueinander gedreht. Der Blick geht zur Tänzerin rechts, die auf allen vieren aussieht, als ob sie in den Startblöcken eines Sprints steht.
Forward Dance Company. Premiere von JOY im LOFFT © Tom Dachs

Den Kanon hinterfragen

Viele Kunstsparten blicken auf eine jahrhunderte- oder sogar jahrtausendealte Tradition zurück. Aus dem unüberschaubaren Erbe wird dennoch häufig nur ein kleiner Ausschnitt gezeigt, der sogenannte Kanon bzw. die Klassiker. Viele Perspektiven und Beiträge fehlen im Blick auf die Kunstgeschichte, sowohl auf der Ebene der Kunstakteur:innen und ihrer Ausdrucksformen als auch in Bezug auf die Weltregionen. Manches schlummert in Archiven und Depots, aber manches wurde auch systematisch ausgeschlossen oder ignoriert.

Eine Frage, die indirekt mit Inklusion zusammenhängt, ist die, was eigentlich nicht gezeigt und nicht aufgeführt wird, obwohl es ebenfalls Teil der Kunstgeschichte ist. Wie geht eine Kultureinrichtung mit Leerstellen um? Wie viel Raum gibt sie den weniger bekannten Künstler:innen oder Werken, die aufgrund ihrer Ästhetik oder ihres Themas weniger selbstverständlich sind? Wer sich nicht im Programm der Kultureinrichtung repräsentiert fühlt, baut eventuell auch keine Bindung zu ihr auf. Das gilt für das Publikum ebenso wie für die Kulturakteur:innen.

Eine andere Frage ist die der Relevanz. Wer kein:e Fachexpert:in oder Kenner:in einer Kunstsparte ist, bewertet die Relevanz oder Wichtigkeit eines Kunstwerks anders als das Personal der Kultureinrichtung. Der Verweis, dass ein Objekt z.B. im Museum sehr alt, sehr selten und/oder sehr wertvoll ist, genügt manchen Menschen nicht. Die Relevanz für die Gegenwart muss erklärt werden. Der Kanon muss aktualisiert und die Tradition erweitert werden.

Behinderung im Programm

Das Thema Behinderung ist als Perspektive auf bestehende Inhalte im Programm von Kultureinrichtungen eine wichtige Bereicherung. So kann eine Museumssammlung kritisch in den Blick genommen werden, ein literarischer Text untersucht oder eine Rolle in einem Theaterstück dahingehend neu befragt werden, ob und wie sich die Erfahrungen, Belange und Perspektiven von Menschen mit Behinderung darin wiederfinden. Denkbar sind ganz unterschiedliche Formate, wie z.B. Podiumsgespräche und Filmabende, die das Thema Behinderung explizit aufgreifen und sinnvoll mit der jeweiligen Kultureinrichtung verbinden. Hier ist in jedem Fall die Einbeziehung von Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen notwendig, um die Wiederholung von Stereotypen und Stigmatisierung zu vermeiden. Dadurch können z.B. folgende Aspekte reflektiert werden:

Hinterfragen Sie ableistische Menschen- und Körperbilder. Wie werden in Kunstwerken, auf der Bühne, in Geschichten und Erzählungen und im Kunstbetrieb z.B. Gesundheit, Normalität und Leistungsfähigkeit verhandelt? Wie entstehen und verbreiten sich Schönheitsideale?

Sie können schmerzhafte Kapitel der Geschichte aufarbeiten. Darunter z.B. auch die Haltung und Arbeitsweise der Kultureinrichtung während der Zeit des Nationalsozialismus sowie der damalige Umgang mit Menschen mit Behinderung.

Diskutieren Sie überlieferte Stereotype. Wie werden Menschen mit Behinderung in Kunstwerken dargestellt? In welchen Rollen treten sie als Figuren in Erzählungen und Theaterstücken in Erscheinung? Welche Funktion und soziale Stellung haben und hatten sie?

Befassen Sie sich mit der (Re)präsentationspraxis an Ihrem Haus. Wenn Figuren auf der Bühne oder im Film eine Behinderung haben, sollten sie  in der Regel auch von eine:r behinderten Schauspieler:in verkörpert werden. Wenn ein:e Schauspieler:in ohne Behinderung die Rolle spielt, spricht man von Cripping up.

Vermeiden Sie es, Menschen mit Behinderung als eine geschlossene Gruppe zu fassen. Menschen mit Behinderung können ganz unterschiedliche Formen von Benachteiligungen oder auch Mehrfachdiskriminierungen erleben. Hier spricht man von Intersektionalität. Die Lebensrealität ist komplexer, als soziologische Statistiken und Kategorien im Ticketbuchungssystem nahelegen. Diese Komplexität sollte auch im Programm berücksichtigt werden.

Das Bild zeigt eine Bühne, der Hintergrund ist Dunkel. Im Scheinwerferlicht stehen sechs Darsteller:innen in pinkfarbenen Kostümen. Sie spielen Flöte, Trommel und Rassel. Drei Darsteller:innen stehen, eine Person kniet und zwei Personen sitzen im Rollstuhl. Im Hintergrund spielen zwei schwarzgekleidete Musiker Schlagzeug und E-Gitarre.
Forward Dance Company © Tom Dachs

Programmwahl

Nicht nur die thematische Ausrichtung, sondern auch die Art und Weise der Programmentscheidung und -mitbestimmung sind wichtige Faktoren für eine relevante und inklusive Kultureinrichtung. Folgende strategische Fragen sollten von der Leitung und anderen Verantwortlichen sowohl bei der langfristigen Planung als auch im Einzelfall kurzfristig diskutiert werden:

Wer entscheidet über das Thema oder den Inhalt des Programms? Können etablierte Hierarchien überdacht werden?

An wen richtet sich das Thema? Wer ist die Zielgruppe, und wer wird dabei vergessen oder unbewusst ausgeschlossen?

Werden bei der Themenfindung unterschiedliche Sichtweisen einbezogen? Unterschiedliche Erfahrungen, Perspektiven und unterschiedliches Wissen können z.B. berücksichtigt werden durch:

  • unterschiedlichen Mitarbeiter:innenebenen,
  • einem Publikumsbeirat (falls vorhanden), Nichtbesucher:innen bzw. zukünftigen Besucher:innen,
  • Partner:innen der Organisation,
  • bislang unterrepräsentierten Perspektiven z.B. von Menschen mit Behinderung?

Wird die eigene Sicht als eine von vielen Möglichkeiten betrachtet?

Werden Themen auf unterschiedliche Weise gesucht? z.B. durch Inputs durch Expert:innen, Perspektivübernahme, Brainstorming, Assoziationsmethoden, Runde Tische, Diskussion, Fragebogen, Interview?

Werden unterschiedliche Quellen zur Themenfindung berücksichtigt und kritisch reflektiert? Wie etwa:

  • Literatur, z.B. Biografien, Disability Studies, historische Quellen,
  • Konsultationen, Befragungen oder Interviews mit z.B. Besucher:innen und Kulturakteur:innen mit Behinderung, Selbstvertretungsorganisationen,
  • öffentliche Ausschreibungen, die sich auch an Laien richten,
  • Veranstaltungen, Festivals, Tagungen und Kongresse, Workshops,
  • TV-Beiträge, Social-Media-Diskussionen, z.B. von Aktivist:innen und Künstler:innen mit Behinderung,
  • Beobachtungen im Alltag?

Wird das Thema gemeinsam ausgewählt und sind Entscheidungsprozesse transparent?